Wider eindeutige Geschlechtlichkeit

Waiting (Foto: Lena Sudmann)

Strategien des Entkommens in Bezug auf Gender und Sexualität spielen in der Performancekunst eine entscheidende Rolle. Ob mit Verfahren des Camp oder Drag, der Maskerade oder Nacktheit, des Cross-Dressings oder Cross-Voicings (u.a.) – stets wird versucht, sich bestimmten herrschenden Konventionen, Normen, Bildern und Zwängen von Weiblichkeit und/oder Männlichkeit sowie Sexualität zu entziehen1. Eine besondere Rolle, vor allem in queeren Performances, spielen dabei Inszenierungsweisen von Geschlechtlichkeit, die keine eindeutige geschlechtliche und/oder sexuelle Position einnehmen, die sich sozusagen geschlechtlich veruneindeutigen. Damit wird den hegemonialen Normen von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität sowie klischeehaften Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit eine Widerständigkeit entgegengebracht. Im Folgenden möchte ich nun verschiedenen Formen des Entkommens von eindeutiger Geschlechtlichkeit in Gender und Queer Performances nachgehen. Um vier Strategien des Entkommens geht es mir dabei: Verkleiden, Verwandeln, Vermischen und Verzerren. Im Anschluss daran steht eine theoretische Reflexion der Spielräume von uneindeutigen geschlechtlichen Verkörperungen im Mittelpunkt, wie sie durch die Performances nahegelegt werden.

 

Verkleiden

Eine wesentliche und wohl auch die bekannteste Strategie, um einer eindeutigen Geschlechtsidentität zu entkommen, stellt die (Ver-)Kleidung dar. Dies kann im Sinne des Cross-Dressings die anders- oder gegengeschlechtliche Inszenierung heißen, oder auch im Sinne eines Double Drag oder Bio Queening die übertriebene Inszenierung von beispielsweise Weiblichkeit durch biologisch als weiblich bestimmte Performer_innen. Im Wort des ‚Verkleidens‘, gerade im Alltagsgebrauch, schwingen Aspekte der Täuschung, des Scheins oder des Spiels gegenüber dem Eigentlichen, dem Sein oder dem Realen mit und mithin die Dichotomie zwischen Innen und Außen, Echt und Unecht, Realität und Fiktion etc. Performances des Verkleidens im eigenen oder anderen Geschlecht spielen mit Prozessen des Ver- und Enthüllens – und können diese gerade ad absurdum führen. Denn, entgegen der Auffassung des Verbergens der wahren Geschlechtlichkeit durch die Verkleidung, die durch Prozesse des Entbergens ans Tageslicht befördert werden könnte, vermag sich bei bestimmten Geschlechterinszenierungen hinter jeder Verkleidung nur wieder eine weitere Verkleidung zeigen etc. Verkleidung, ganz im Sinne des Maskerade-Begriffs, wie er in den Gender Studies seit den 1990er Jahren entwickelt wurde2, kann also die Dichotomien von echt/unecht, wahr/falsch, real/fiktional, ernsthaft/spielerisch ins Schwanken bringen, wenn sich der Prozess der geschlechtlichen Verkleidung als infiniter herausstellt. Weiblichkeit und Männlichkeit werden so als Maskeraden deutlich, sie sind nichts anderes als Formen der (Ver-)Kleidung bzw. – allgemeiner ausgedrückt – als Formen der Inszenierung.

Die New Yorker Künstlerin Narcissister ist dafür ein gutes Beispiel: In ihrer Performance, die ich beim „CAMP/Anti-CAMP“-Festival im Hebbel am Ufer in Berlin (April 2012) erleben konnte, tritt Narcissister vollständig maskiert auf. Um den Körper einen langen Umhang mit Kapuze, auf dem Gesicht eine als weiblich markierte Maske mit langen, dunklen Haaren, Zöpfen, Lippenstift und hohen Wangenknochen. Die Performance besteht im Wesentlichen aus Entkleidungen und Drehungen, wobei mit jeder abgelegten Schicht Kleidung und mit jeder Wendung des Körpers (vorn, hinten, oben, unten) nur wieder eine weitere Maske zum Vorschein kommt. So sehen die Zuschauer_innen beispielsweise bei der Rückansicht von Narcissister nicht den vermeintlich ‚echten‘ Hinterkopf und mithin ein mögliches Indiz auf die ‚wahre‘ (Geschlechts-)Identität, sondern wiederum die gleiche Frauenmaske wie auf dem Gesicht, so dass sich Vorder- und Rückansicht zum Verwechseln ähnlich werden. Aber Narcissister bringt nicht nur die Ordnung von Vorn und Hinten ins Wanken, sondern auch von Oben und Unten: Irgendwann nämlich macht Narcissister einen Handstand und auch zwischen den Beinen (ebenso wie am Hinterteil) taucht die Frauenmaske auf, die Beine werden zu Armen, Arme zu Beinen, so dass oben und unten ebenfalls austauschbar erscheinen. Narcissister legt fortwährend Schicht für Schicht der Kleidung bis auf den BH ab, den sie ebenfalls an Brust und Rücken trägt, die Masken behält sie allerdings an, mit dem Resultat, dass man den Eindruck hat, hinter jeder Maske ist nur eine weitere Maske und eine weitere usw.

Die Performance von Narcissister erinnert so gesehen stark an Joan Rivières Konzept der „Weiblichkeit als Maskerade“ (1929). Rivière, eine französische Psychoanalytikerin, kommt innerhalb eines Falls einer Patientin zu der Erkenntnis, dass „Weiblichkeit […] daher etwas [war], das sie [die Patientin, Anm.] vortäuschen und wie eine Maske tragen konnte, sowohl um den Besitz von Männlichkeit zu verbergen, als auch um der Vergeltung zu entgehen, die sie nach der Entdeckung erwartete […]. Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere und wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der ‚Maskerade‘ ziehe. Ich behaupte gar nicht, daß es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe.“3

Narcissister betont also mit dem Verkleiden die Inszeniertheit von (weiblicher) Geschlechtlichkeit und verwirrt nicht nur das traditionelle Konzept von Innen und Außen, sondern auch von Vorn und Hinten, Oben und Unten, was der gesamten Performance zusätzlich groteske Züge verleiht. Denn ein wesentliches Merkmal des Grotesken sind Umkehrungen und Verdrehungen und die damit verbundene Überschreitung hegemonialer Ordnungen. Darüber hinaus überschreitet Narcissister mit dieser Performance auch die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen E- und U-Kultur. Genau mit diesem Teil der Performance tritt sie nämlich in der sechsten Staffel der amerikanischen TV-Show „America’s Got Talent“(2011) auf4.

Dabei beinhaltet Narcissisters Verkleidungs-Performance auch eine Maskerade über die eigentliche Show/Performance hinaus. Als sie vor der Jury steht, nimmt sie die Maske(n) nicht ab und führt das Masken-Spiel eher noch fort, auch dadurch, dass sie sich umdreht und quasi in Rückenansicht vor der Jury agiert. Diese Aktion kann nun unterschiedlich interpretiert und gewertet werden: als eine Fortführung der Show beispielsweise und damit einen nachdrücklichen Verweis darauf, dass hier bei „America’s Got Talent“ eben alles Show/Spiel/Fake ist. Ebenso kann diese Szene als ein brisanter Akt des Übergangs zwischen Spiel und Realität gedeutet werden. Narcissister beharrt auf der Position, nichts anderes als Maskerade, als Inszenierung zu sein, auch über die künstlerisch-theatrale Aktion und die theatrale Konvention des Als-Ob hinaus. Der spielerische Akt des fortwährenden Ver- und Entkleidens und die damit ausgestellte Konstruiertheit von Weiblichkeit werden in dieser kurzen Szene als eine politische Aktion denkbar, die ebenso für Verwunderung wie für Irritationen sorgt. Ja, man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass diese Aktion ’nach‘ der künstlerischen Performance überhaupt erst einen subversiven Akt darstellt. Denn erst mit der Verweigerung der De-Maskierung bzw. dem Beharren auf Maskierung außerhalb des Show-Acts wird der Körper Narcissisters – um es mit Gerald Siegmund zu sagen – zu einem „vergifteten Körper“, zu einem Bild von Körper und Identität, der sich gegen seinen Konsum und seine Einverleibung wehrt5. Und dies paradoxerweise in einem Kontext, in dem der Körper und (geschlechtliche) Identität scheinbar bereits Teil des Konsums und der Einverleibung sind.

 

Verwandeln

Eine weitere Strategie, sich einer eindeutigen geschlechtlichen Position zu entziehen, ist die Verwandlung von einem Geschlecht ins andere, ohne sich auf eine Geschlechtlichkeit festzulegen bzw. diese zu privilegieren. Auch hier geht es – wie beim Verkleiden – um Prozesse fortwährenden Ent- und Verhüllens, jedoch steht bei der Verwandlung, wie ich die Kategorie hier fassen möchte, der explizite Transformationsprozess von einem Geschlecht ins andere, der geschlechtliche Zustandswechsel stärker im Vordergrund.

Bei den Performances der Berliner Künstlerin Bridge Markland ist die Transformation von einem Geschlecht ins andere ein zentrales Thema. In einer Lecture Performance am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin im Juli 2012 führt Markland ihre Show The most beautiful woman in the world bzw. Die schönste Frau der Welt6 auf: Zunächst ist Markland in einem goldenen Kleid und einer Langhaarperücke zu sehen – sie stellt also offensichtlich eine Frau dar. Eine kohärente Darstellung von Weiblichkeit wird allerdings bereits gebrochen durch groteske Körpergesten, wie etwa ein explizites Augenzwinkern, das Zeigen des Oberkörpers und Herausstrecken der Brust u.a. Alsbald beginnt Markland sich auszuziehen und unter dem Kleid kommt ein nackter Oberkörper mit schmalen Brüsten zum Vorschein, die Brustwarzen sind mit rotem Klebeband kreuzweise überklebt. Alsbald zieht sie sich langsam und für alle deutlich sichtbar die Langhaarperücke vom Kopf und entblößt einen kahlen Schädel. Erscheint also zunächst das Ablegen der Kleidung die weibliche Geschlechtsidentität zu bestätigen, so wird mit der Glatze – die in unserer Kultur nach wie vor eindeutig männlich codiert ist – ein irritierendes Moment eingeführt, das die vermeintlich eindeutige geschlechtliche Position der Weiblichkeit ins Wanken bringt. Nachdem Markland nun halb nackt auf der Bühne steht, beginnt sie_er sich wieder anzuziehen, diesmal aber nicht das Kleid, sondern eine Anzughose, weißes Hemd, Hosenträger, Schlips und Jackett, im Revers steckt ein Natur-Dildo. Markland verwandelt sich also zu einem Mann, was sie_er am Ende noch einmal pointiert herausstellt, insofern der Song It’s a Man’s Man’s Man’s World (1966; Interpret: James Brown) per Playback im übertriebenen und parodistischen Gestus vorgetragen wird.

Auf verschiedenen Ebenen von Weiblichkeit, Männlichkeit, weiblicher Männlichkeit und männlicher Weiblichkeit schafft Markland also Zonen der Veruneindeutigung von Geschlechtlichkeit – dies erreicht sie gerade durch die Ausstellung des Prozesses der Verwandlung auf und neben der Bühne, und nicht nur durch das Zeigen des Resultats als Drag Queen, Drag King oder Bio Queen. Markland macht in dieser Verwandlungsszene die Konstruiertheit weiblicher wie männlicher Identität, die eben durch bestimmte Zeichen, Codes und Attribute hergestellt werden und nicht an einen bestimmten Körper gebunden sind, offensichtlich und zeigt dabei explizit die Imitationsstruktur geschlechtlicher Identität auf. Zudem führt sie auch Auseinandersetzungen mit ganz konkreten Weiblichkeits- und Männlichkeitstypen und wertet sie in bestimmter Weise: die rothaarige Sexbombe, das androgyne Wesen und den Macho. Alle Typen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Androgynität werden durch groteske Gesten und plakative Accessoires übertrieben und zugespitzt dargestellt und damit als ganz bestimmte (Geschlechter-)Bilder ausgestellt und entlarvt.

 

Vermischen

Eine weitere Strategie, eindeutigen geschlechtlichen Positionen zu entkommen, möchte ich als ‚Vermischen‘ bezeichnen. Damit sind geschlechtliche Inszenierungsformen gemeint, bei denen gleichzeitig mit männlichen und weiblichen Codierungen gespielt wird und so eine einheitliche Produktion und Wahrnehmung geschlechtlicher Verortungen unterminiert und verunsichert wird. In Bezug auf Bridge Markland etwa ist damit jener Moment gemeint, indem Markland die vermeintlich eindeutige Weiblichkeitsinszenierung durch die Glatze veruneindeutigt.

Die Vermischung geschlechtlicher Zeichen und Codes in einem Akt sowie die damit verbundene Verwischung und Veruneindeutigung von Geschlechtergrenzen ist auch Thema des Drag- und Trans*-Performers Océan LeRoy. In seiner_ihrer Show „Femme like you“ ist die eine Körperhälfte männlich und die andere Körperhälfte weiblich bestimmt. So trägt der_die Performer_in auf der einen Seite Anzug und Bart, auf der anderen ein Abendkleid und Lippenstift. Auch akustisch wechselt LeRoy je nach Liedzeile zwischen männlicher und weiblicher Stimme, ohne sich für eine zu entscheiden oder eine besonders zu präferieren7. Das Zusammenspiel von Männlichkeit und Weiblichkeit in einer Person sowie die Hervorbringung einer besonderen Identität, die sich jenseits dieser Gegenüberstellungen bewegt, sind vielmehr von Interesse.

Besonders überraschend und markant wird eine solche Veruneindeutigung zudem, wenn LeRoy nackt auf der Bühne zu sehen ist und die vermeintlich eindeutige Geschlechtlichkeit dennoch gebrochen wird. Sei es durch das Zeigen der Rückansicht des Körpers, die kein eindeutiges Indiz für Männlichkeit oder Weiblichkeit abgibt. Sei es dadurch, dass der scheinbar eindeutig weibliche Körper, durch Brüste und Vagina markiert, mit Gesten, Blicken und Posen konterkariert wird, die dem Repertoire männlicher Verkörperungen und Verhaltensweisen entnommen sind. Besonders auffällig und verstörend wirkt eine solch vermischte Inszenierung von Nacktheit unter anderen deshalb, da dem biologischen Körper in der westlichen Kultur der Status eines Wesenskerns zukommt, der die geschlechtliche Identität quasi natürlich und essentiell bestimmt. Dass auch dieser biologische Körper und damit auch der biologische Geschlechtskörper (‚ex‘) performativ verfasst ist, seine Geschlechtlichkeit mithin erst Effekt verschiedener Verkörperungstechniken ist, die sich in den Körper einschreiben und so er- und gelebt werden, darauf macht LeRoys Performance nachdrücklich aufmerksam.

LeRoy beharrt also mit verschiedenen Mitteln auf einer uneindeutigen Position zwischen den Geschlechtern – es ist nie genau auszumachen, ob Océan LeRoy nun ‚wirklich‘ eine Frau oder ein Mann ‚ist‘. Die Zuschauer_innen werden vielmehr selbst auf die eigene Wahrnehmung und den Zuschreibungsprozess zurückgeworfen, indem die Frage offen bleibt, welche geschlechtliche Position LeRoy einnimmt. Mithin verunsichert die mixed-drag-Performance von Océan LeRoy gerade den Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozess von Geschlecht selbst, entautomatisiert aber auch diesen Vorgang, lässt zu Bewusstsein kommen, dass Geschlecht nicht nur eine Frage von Produktion und Inszenierung, sondern auch von Wahrnehmung und Zuschreibung ist.

In der Wahrnehmung des Anderen wird immer auch die Geschlechtlichkeit des Anderen mitkonstituiert, ganz im Sinne von Paula-Irene Villas bündiger Beschreibung: „Der sozial geformte Blick formt seinerseits die Welt, die gesehen wird – und das Wissen von/über die Welt formt den Blick.“8 Wie Villa weiterhin ausführt, in Rekurs auf Stefan Hirschhauers Untersuchungen der Konstruktion von Wahrnehmungsprozessen, unterliegt auch die geschlechtliche Wahrnehmung Zwängen, „Entscheidungs- und Fortschreibungszwängen, Entzifferungs- und Anerkennungszwängen“9, die auch aus einer widersprüchlichen geschlechtlichen Erscheinung ein „kohärentes Ganzes“10 machen. Die Frage, die sich in dem Zusammenhang nachdrücklich stellt, ist also nicht nur, wie man von der Produktionsseite aus einer eindeutigen Geschlechtlichkeit entfliehen kann, sondern vor allem auch, wie man den Zwängen der Wahrnehmung, im Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken eine eindeutige Geschlechtlichkeit herzustellen, entkommen kann. (Und darüber hinaus auch Zwängen der Sprache, Eindeutigkeit herzustellen, wo keine ist – eine Frage, die sich ja auch für diesen Beitrag stellt.)

 

Verzerren

Habe ich mich bislang ausschließlich mit visuellen Geschlechterinszenierungen auseinandergesetzt und damit auch vorwiegend visuelle Strategien der Veruneindeutigung geschlechtlicher Positionen herausgestellt, geht es mir bei der nächsten Form des Entkommens explizit um akustisch-stimmliche Strategien, die ich mit dem Begriff des ‚Verzerrens‘ fassen möchte. Bekanntlich stellt sich geschlechtliche Identität – und ebenso ihre Veruneindeutigung – nicht nur durch visuelle Komponenten der Kleidung, Gestik, Mimik, Schmuck, Schminke etc. her, sondern ebenso durch stimmliche und verbal-sprachliche.

Mit stimmlicher Artikulation und Nicht-Artikulation, mit dem Schreien, Sprechen und Schweigen werden Weiblichkeit, Männlichkeit, Geschlechterdifferenz und damit verbundene Hierarchien und Machtverhältnisse stets mit-hervorgebracht. So werden in der westlichen Kultur männliche und weibliche Sprechstimmen vor allem hinsichtlich der Tonhöhe bzw. der Grundfrequenz unterschieden, aber auch anhand von Artikulation, Intensität oder Intonation werden männliche bzw. weibliche Stimmen wahrgenommen, erkannt und differenziert. Die geschlechtlich besetzte Stimme stellt keine naturgegebene und mithin unveränderliche Tatsache dar, sondern ist ein soziokulturelles Produkt, das aus einem Zusammenspiel von physischen und psychosozialen Elementen, sexuell-geschlechtlichen Sozialisationen nach gesellschaftlich etablierten Rollenbildern, Normen und Idealen sowie Körpertechniken, vokalen Mustern und Technologien einer jeweiligen Zeit und Kultur resultiert11. Dies zu betonen, ist vor allem deshalb wichtig, da die soziokulturelle Konstitution und Formierung der Stimme und des Hörens weniger stark im kulturellen Bewusstsein verankert zu sein scheint als beispielsweise in Bezug auf Kleidung, Frisuren, Accessoires (u.a.), also in Bezug auf visuelle Erscheinungs- und Wahrnehmungsweisen. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad ebenfalls für die Musik und die Gesangsstimme, auch wenn die Geschlechtsspezifik und Geschlechterdifferenz über Gesangsregister stärker konventionalisiert und stärker im kulturellen Bewusstsein verankert ist.

Eine Künstlerin, die sich mit ihrer verzerrten Stimme einer eindeutigen geschlechtlichen Positionierung widersetzt, ist Planningtorock. Die Stimme ist mit Filtern so bearbeitet, dass sie sich jeglicher geschlechtlicher Zuschreibung entzieht und somit für Unruhe und Verwirrung auf Seiten der Hörer_innen sorgt12. Ein Kritiker beschreibt die Irritation, die von der Stimme Janine Rostrons alias Panningtorock ausgeht, wie folgt: „‚Was ist das eigentlich, was man hier hört?‘, ‚Wer ist das eigentlich, den man hier hört?‘ Nun, wen wir hier hören, das wissen wir ja glücklicherweise – Janine Rostron. Läge diese Information allerdings nicht vor, bliebe oft unklar, um was für ein Wesen es sich handelt. Denn die Stimme, die zu vernehmen ist, ist oft seltsam entrückt und unnahbar. Sie kommt aus dem Hintergrund, ist mit viel Hall unterlegt, es ist weitestgehend einfach nicht möglich, sie zu greifen. Manchmal klingt sie nach einer Frau, an anderer Stelle wieder nach einem Mann. Nicht selten hat man beim Hören das Gefühl, jetzt müsste eigentlich jeden Moment Antony Hegarty anfangen, im Duett mit Rostron zu singen.“13

Es sei zumindest angemerkt, dass Planningtorock sich auch auf visueller Ebene einer eindeutigen geschlechtlichen Zuschreibung widersetzt – lange Haare, melancholischer Blick, kein zum Lächeln verzogener Mund und vor allem eine überaus markante Nase entziehen sich einer eindeutigen geschlechtlichen Zuschreibung. So beschreibt es auch ein Kritiker des Berliner schwullesbischen Stadtmagazins Siegessäule: „Ihre langen Haare schlängeln sich wild wie bei einem Löwen um Schultern und Nacken. Erhascht man dann einen Blick auf ihr Gesicht, zerbröselt der erste, eher weibliche Eindruck ihrer Gestalt. Die Wangenknochen sind akzentuiert, die Augenpartie scharf und die Nase riesig, mit einem Höcker direkt unter den Augenbrauen – ihr mittels Theaterknete zur Gesichtsmodellage manipuliertes Gesicht entzieht sich jeder Kategorisierung von Alter und Geschlecht.“14

 

Spielräume des Entkommens

Bislang habe ich mich darauf konzentriert, verschiedene Strategien des Entkommens von eindeutiger Geschlechtlichkeit zu beschreiben. Mit den Formen des Verkleidens, Verwandelns, Vermischens und Verzerrens, die sicherlich um weitere Formen ergänzt werden könnten, ging es vor allem um Strategien des Entzugs und des Unterlaufens. Es ging, wenn man so will, um negative Dimensionen des Bruchs mit hegemonialen Normen der Zweigeschlechtlichkeit sowie mit klischeehaften Bildern von Männlichkeit und/oder Weiblichkeit. Allerdings gehen meines Erachtens die queeren Performances in dieser Beschreibung nicht auf. Es handelt sich dabei nicht nur um bloße Absetzungs- bzw. Abgrenzungsbewegungen von vorherrschenden Geschlechternormen und -bildern, sondern mit spezifischen Geschlechterinszenierungen werden auch Spielräume eröffnet und in diesem Sinne wird positiv aufgezeigt und vorstellbar gemacht, wie Geschlecht in anderer Weise inszeniert, gelebt und erfahren werden kann. Mit anderen Worten: Strategien des Entkommens umfassen hier nicht allein negative, sondern auch positive Dynamiken.

Stärker noch als der Begriff der Subversion fragt der Begriff des Entkommens, des Eskapismus nach dem Wovon ‚und‘ Wohin. Diese beiden Bezugspunkte machen die Bewegung des Entkommens erst als solche markant, ohne damit immer schon greifbar und festgelegt zu haben, wovor und wohin man genau zu entkommen trachtet. Wie könnte dieses ‚Wohin‘ in Gender & Queer Performances nun aussehen bzw. näher gefasst werden?

Einige der hier beschriebenen Performer_innen befinden sich in Bezug auf Geschlechtlichkeit nicht nur in einer abweisenden Bewegung, sondern eher in einer Zwischenposition. Zwischenposition meint hier aber weniger ‚zwischen den Geschlechtern‘, meint nicht ein bloßes Verfahren des Sowohl-Als-Auch, welches die klassische Relation des Entweder-Oder einfach nur umkehrt. Vielmehr ist damit eine Position zwischen Annahme und Verweigerung gemeint, in den Worten von Uta Schirmer: „zwischen der Annahme einer verfügbaren, intelligiblen Position und ihrer Verweigerung: ‚Ich bin es und bin es nicht‘; ‚ich bin es, aber nicht so‘; ‚vielleicht bin ich es, vielleicht aber auch nicht‘. Mit José Esteban Muñoz lässt sich diese Haltung als disidentification fassen.“ Disidenification meint nach Muñoz das Durcharbeiten von Subjektpositionen, ohne diese vollständig anzunehmen, noch sie völlig zurückzuweisen15. So fasst Schirmer zusammen: „Disidentification zielt damit auf die Dekonstruktion und Destabilisierung der in hegemonialen Ordnungen fixierten ‚Plätze‘, auf deren Denaturalisierung und auf das Offenlegen ihres ideologischen Gehalts, bleibt dabei aber nicht stehen: In ein und derselben Bewegung werden zugleich alternative Möglichkeiten der Verortung, die aus einer hegemonialen Perspektive ‚undenkbar‘ erscheinen, hervorgebracht und als solche sichtbar gemacht.“16

Vor diesem Hintergrund werden die Inszenierungen von Geschlechtlichkeit in den besprochenen Performances als eine doppelte Bewegung denkbar: die Verwerfung eindeutiger Positionierungen, die Dekonstruktionen fixierter Geschlechterpositionen und bestimmter Männlichkeits- oder Weiblichkeitsbilder auf der einen Seite – und auf der anderen Seite: zugleich die Eröffnung von Spielräumen, in denen andere geschlechtliche und sexuelle Verortungen gezeigt und erfahrbar werden. Man könnte sagen, dass beispielsweise Markland mit ihrer Show Die schönste Frau der Welt ein permanentes ‚Vielleicht‘ hervorhebt: ‚vielleicht bin ich ein Frau, vielleicht bin ich ein Mann, vielleicht auch beides, vielleicht auch nichts davon‘ – eine Position also, die aus einer hegemonialen Perspektive undenkbar erscheint. Zudem wird bei Markland die doppelte Bewegung von Annahme und Verweigerung sehr gut deutlich: Markland nimmt z.B. die Position eines Macho-Kerls an, verweigert oder entzieht sich aber zugleich der vollständigen und einheitlichen Verkörperung der Rolle, vor allem über groteske Gesten und plakative Accessoires. Und nicht zuletzt betreffen diese Spielräume anderer geschlechtlich-sexueller Verortungen auch potentiell die Zuschauer_innen: Auch sie können im Kontext von Aufführungen uneindeutiger Geschlechtlichkeit Positionen einnehmen, die im Rahmen verfügbarer intelligibler Positionen als undenkbar und als unmöglich erscheinen, z.B. kann eine Lesbe einen Mann begehrenswert finden, können sich heterosexuelle Frauen von Frauen angezogen fühlen o.a.

Der Punkt ist hier also, dass die positive Dimension der Strategien des Entkommens keine Produktivität im Sinne eines Ankommens meint, keine neue feste Geschlechterposition, die wiederum nutzbar, normgebend oder konsumierbar gemacht werden könnte, wie es zum Teil mit Phänomenen der Androgynität oder des Transgender geschieht. Diese positive Seite blitzt sozusagen als Möglichkeit auf ohne selbst zum Bild zu werden, sie ist nur im Verbund mit der negativen Seite zu denken, ihr Ausgangs- und Bezugspunkt ist jedoch die Abwesenheit. Oder mit Antke Engel gesprochen:

„Die VerUneindeutigung ist eine strategische Intervention, die jeweils im Verhältnis zu einer spezifischen Norm oder Normalität funktioniert. Sie trachtet diese zu unterlaufen, ohne jedoch in Opposition zu treten oder ihrerseits eine erneute normative Schließung vorzunehmen. Vielmehr liegt die in die Zukunft gerichtete Bewegung der VerUneindeutigung gerade darin, eine Perspektive der Veränderung zu eröffnen, ohne diese mit positiven Setzungen zu belegen – zum Beispiel bezüglich dessen, wie eine ‚ideale‘ oder ’normale‘ Sexualität oder Geschlechtlichkeit auszusehen hätte.“17

 

Literaturverzeichnis

Leslie C. Dunn/Nancy A. Jones: Embodied Voices. Representing female vocality in western culture. Cambridge 1994.

Antke Engel: „Entschiedene Interventionen in der Unentscheidbarkeit. Von queerer Identitätskritik zur VerUneindeutigkeit als Methode“. In: Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Hg. v. Sabine Hark. Wiesbaden 22007, S. 285-304.

Claudia Liebrand: „Maskerade“. In: Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung. Hg. v. Renate Kroll. Stuttgart/Weimar 2002, S. 255-256.

Joan Rivière: „Weiblichkeit als Maskerade“. In: Weiblichkeit als Maskerade. Hg. v. Liliane Weissberg. Frankfurt/Main 1994, S. 34-47

Uta Schirmer: Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten, Bielefeld 2010.

Jenny Schrödl: „Vokale Travestien. Zu stimmlichen Geschlechterinszenierungen auf der Bühne“. In: Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik. Hg. v. Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Heidelberg 2006, S. 377-396.

Jenny Schrödl: „Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken“. In: etum, 1/1, 2014, S. 33-52.

Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. Bielefeld 2006.

Paula-Irene Villa: Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Opladen 22001.

 

Empfohlene Zitierweise

Jenny Schrödl: „Wider eindeutige Geschlechtlichkeit. Formen und Spielräume des Entkommens in Gender & Queer Performances“ In: escape. Strategien des Entkommens. Onlinepublikation. Hg. von Nicole Kandioler/Ulrich Meurer/Vrääth Öhner/Andrea Seier. http://escape.univie.ac.at/wider-eindeutige-geschlechtlichkeit/

 

Endnoten

  1. Vgl. zu einem Überblick verschiedener theatraler Strategien von Geschlechterinszenierungen sowie zum Aspekt der Subversion: Jenny Schrödl: „Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken“. In: etum, 1/1, 2014, S. 33-52.
  2.  Vgl. Claudia Liebrand: „Maskerade“. In: Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung. Hg. v. Renate Kroll. Stuttgart/Weimar 2002, S. 255-256.
  3. Joan Rivière: „Weiblichkeit als Maskerade“. In: Weiblichkeit als Maskerade. Hg. v. Liliane Weissberg. Frankfurt/Main 1994, S. 34-47, hier S. 38-39.
  4. Der Auftritt ist auf YouTube zu sehen: http://www.youtube.com/watch?v=KSfFCNEteyk, (12.11.2014).
  5. Vgl. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. Bielefeld 2006, S. 37.
  6. Eine Aufnahme der Show ist über Bridge Marklands Webseite anzusehen: http://www.bridge-markland.de/DEPROFIL/schoenste_DE.htm, (11.11.2014).
  7.  Vgl. eine Aufnahme der Show aus dem The Brattle Theatre in Cambridge, MA von 2008: https://www.youtube.com/watch?v=YiftAOkTpQQ, (11.11.2014).
  8.  Paula-Irene Villa: Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Opladen 22001, S. 85.
  9.  Villa 2001, S. 86.
  10.  Villa 2001, S. 88.
  11.  Vgl. Leslie C. Dunn/Nancy A. Jones: Embodied Voices. Representing female vocality in western culture. Cambridge 1994, S. 2-3; Vgl. zum Verhältnis von Geschlecht und Stimme, insbesondere im Theater und in der Performancekunst: Jenny Schrödl: „Vokale Travestien. Zu stimmlichen Geschlechterinszenierungen auf der Bühne“. In: Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik. Hg. v. Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Heidelberg 2006, S. 377-396.
  12.  Ein Beispiel dafür ist der Song und das Video Doorway (DFA Records 2011): http://www.youtube.com/watch?v=0fAJ7nlD3_Y (11.11.2014).
  13.  Marc Beham: „Neue Platten: Planningtorock – ‚W’“ (19.05.2011). In: http://byte.fm/magazin/blog/2011/05/19/neue-platten-planningtorock-w/ (18.04.2013).
  14. „Bildgewaltig. Die queere Artpop-Sensation Planningtorock präsentiert den Siegessäule Reader’s Award auf der diesjährigen TEDDY-Gala“. In: Siegessäule, Februar 2013, S. 27.
  15. Uta Schirmer: Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten, Bielefeld 2010, S. 161.
  16.  Schirmer 2010, S. 162.
  17. Antke Engel: „Entschiedene Interventionen in der Unentscheidbarkeit. Von queerer Identitätskritik zur VerUneindeutigkeit als Methode“. In: Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Hg. v. Sabine Hark. Wiesbaden 22007, S. 285- 304, hier S. 297.