Leere Momente

© Lena Sudmann

Was weiß das Kino von der Flucht und vom Entkommen? Dem Vernehmen nach eine ganze Menge. Zunächst ist das Kino insgesamt, als sogenannte Traumfabrik, als Medium der Unterhaltung, als populärkulturelles Vergnügen ein Ort der Flucht aus dem Alltag. Ebenso wie davor das Theater, der Roman oder die illustrierten Zeitschriften, später das Fernsehen und heute das Internet wurde der Eskapismus, den das Kino ermöglicht und befördert, schnell zum Gegenstand der Kulturkritik, und zwar sowohl in ihrer bildungsbürgerlichen als auch in ihrer sozialdemokratischen Variante. Während die Aversion der Linken vor allem von der Sorge getragen wurde, „das Kino könne, schon weil es Zeit und Interessen binde, Kräfte von Nützlicherem, das hieß: von den eigenen politischen Aktivitäten ablenken“1, löste, wie Jörg Schweinitz schreibt, bei der kulturkonservativen Rechten bereits „der schwüle dunkle Raum, in dem die Masse vor den mechanischen Reproduktionen auf der Leinwand über weite Strecken gleichsam in Hypnose verfalle und exzessiven Reizungen, auch sexuellen, unterliege, ungute Gefühle aus“2. Sinnlichkeit statt Sittlichkeit, Verrohung statt Bildung, Trieb statt Vernunft lauteten nur einige der massenpsychologisch grundierten Befürchtungen über die Auswirkungen kinematographischer Realitätsflucht im wilhelminischen Deutschland. Einem Kommentator, nämlich Victor Noack, erschien „Der Kientopp“ gar als Suchtmittel, als „intellektueller Fusel“ vergleichbar dem Alkohol3.

 

Ich erwähne diese Dinge, die im Grunde altbekannt sind, nur deshalb, weil sie eine Art Herkunftselement des Entfremdungskinos darstellen. Ihr ferner Nachhall lässt sich – unter dem Vorzeichen der Emanzipation – im Konzept der Zerstreuung bei Walter Benjamin und bei Siegfried Kracauer in den 1930er Jahren ebenso vernehmen, wie – unter dem Vorzeichen der Kritik – bei Horkheimer/Adorno in den Vierziger- oder bei Guy Debord in den Sechzigerjahren. Das Konzept der Zerstreuung lasse ich einmal außen vor (für das Entfremdungskino scheint es eher nebensächlich zu sein) und springe gleich zur Kritik der Frankfurter Schule. Im Vergleich zu den eben erwähnten Positionen fällt bei Horkheimer/Adorno auf, dass nicht der Eskapismus des Kinos als solcher, sondern das von der Kulturindustrie massenhaft produzierte Versprechen einer Flucht aus dem Alltag thematisch wird. Und zwar als leeres Versprechen:

„Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie in allen ihren Zweigen zu besorgen verspricht, ist es bestellt wie mit der Entführung der Tochter im amerikanischen Witzblatt: der Vater hält selbst im Dunklen die Leiter. Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an. Escape wie elopement [Weglaufen] sind von vorneherein dazu bestimmt, zum Ausgangspunkt zurückzuführen. Das Vergnügen befördert die Resignation, die sich in ihm vergessen will.“4

Und weiter:

„Es [das Vergnügen] ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat.“5

 

Der neomarxistischen Kulturkritik zufolge stellt das Kino also, soweit es Teil der Kulturindustrie ist (und nicht etwa Teil der Kunst oder des „entfesselten Amüsements“), gerade keine Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag dar, sondern muss ganz im Gegenteil als „eine Instanz der scheinhaften Befriedigung und imaginären Wunscherfüllung“ verstanden werden, „als ein Fließband der Bilder, das den Takt rationalisierter Arbeit auf die Freizeit [überträgt], als Apparat der gesellschaftlichen Gleichschaltung und als Fabrik konformistischer Subjekte“6. Wie Stephan Gregory festgestellt hat, scheint das Kino damit „in idealer Weise dem zu entsprechen, was seit Foucault als ‚biopolitische‘ Regulationsweise des Sozialen bezeichnet wird. Als Vergnügungsinstrument erschließt es jenen Bereich der ‚Freizeit‘, der durch klassische Subjektivierungs-Anstalten wie Schule, Fabrik, Militär etc. nicht erreicht wird; operierend auf der Ebene der sinnlichen Reize, der Bewegungen, Wahrnehmungen und Begierden, wirkt es unmittelbar – und ohne Umweg über ‚Ideologie‘ – auf die Körper der Menschen; unter Verzicht auf gesetzlichen oder disziplinären Zwang moduliert es das Verhalten der Zuschauer durch unterschwellige Formung von Wunschverhältnissen und Regulierungen von Gefühlslagen“7. Das ist aber nur die eine Seite: Denn auf der anderen Seite, so Gregory weiter,

„macht es die eigentümliche politische Ambivalenz des Kinos aus, dass es immer zugleich Instrument der Herrschaft und Mittel zu ihrer Kritik war. Wenn es – biopolitisch betrachtet – als Instanz der Produktion und Normierung von Leben funktioniert, so hört es zugleich nicht auf, eben diese Mechanismen der Lebensproduktion und -normierung zu reflektieren und sichtbar zu machen“8.

 

Vor dem Hintergrund dieser eigentümlichen politischen Ambivalenz des Kinos (die im Übrigen von Horkheimer/Adorno ebenfalls bemerkt wurde) modelliert Gregory in weiterer Folge die Konturen eines europäischen Entfremdungskinos, das sich der beschriebenen Ambivalenz zunehmend bewusst wird. Im Zentrum des Entfremdungskinos steht – der Begriff verrät es – das marxistische Konzept der Entfremdung, demzufolge dem Arbeiter sowohl sein Arbeitsprodukt als auch die eigene Arbeitstätigkeit als fremdes Wesen und unabhängige Macht gegenübertritt. Bei Marx entspricht der doppelten Entäußerung von Arbeit und Produkt der Arbeit die Entfremdung des Gattungswesens des Menschen, was als unmittelbare Konsequenz die Entfremdung des Menschen vom Menschen zur Folge hat. Die schmerzliche Wahrnehmung genau dieser Entfremdung des Menschen vom Menschen bildet den Ausgangs- und Bezugspunkt des Entfremdungskinos der Sechziger- und Siebzigerjahre, das allerdings, wie Gregory ausführt, bei der Formulierung eines letzten Gedankens an Widerstand gegen die entfremdeten und verdinglichten Verhältnisse in ein unauflösliches Dilemma gerät:

„Das spezifische Kino-Unglück liegt nun in dem Paradox, die Sehnsucht nach der verlorenen Unmittelbarkeit selbst wiederum nur filmisch, also medial austragen zu können – ein Leiden des Mediums an seiner Medialität, das durch seine vielfachen und häufig raffinierten Brechungen nicht geringer wird. Konstitutiv für das Entfremdungskino […] sind also Filme, die ‚entfremdete‘ oder ‚verdinglichte‘ Verhältnisse nicht einfach darstellen, sondern in denen sich die Spaltung von Medium und Leben nach Art eines unglücklichen Bewusstseins selbst ins Bild einschreibt.“9

 

Vor der Revolution

Einem zeitgenössisch vielbeachteten, wenn auch seither ein wenig in Vergessenheit geratenen Beispiel für ein solches Entfremdungskino möchte ich mich vor diesem Hintergrund zuwenden, und zwar Bernardo Bertoluccis Prima della Rivoluzione von 1964. Wie der Titel bereits andeutet, verhandelt Bertoluccis zweiter Spielfilm, der sich in stilistischer Hinsicht stark an Vorbildern wie Michelangelo Antonioni oder Jean-Luc Godard orientiert (beide nach Gregory exemplarische Vertreter des Entfremdungskinos), eine ganz besondere Form des Eskapismus, die man als politischen Eskapismus bezeichnen könnte. Wobei politischer Eskapismus hier gerade keine Flucht vor der Politik und damit eine weitere Befestigung der Entfremdung meint, sondern im Gegenteil, eine Flucht in die Politik, um auf diese Weise die sowohl äußere (soziale) wie innere (persönliche) Lebendigkeit aufzehrende Entfremdung zu überwinden.

 

Im Zentrum des Films stehen die letztendlich vergeblich bleibenden Versuche des Protagonisten Fabrizio (Francesco Barilli), seiner bürgerlichen Herkunft zu entkommen. Angetrieben wird Fabrizio dabei sowohl von einem Gefühl der Schuld und einem schlechten Gewissen, das sich aus der Spannung zwischen dem Genuss sozialer Privilegien und der Ablehnung der auf Machterhalt zielenden Politik des Bürgertums speist, als auch von der Wahrnehmung einer Lebensform, der die Lebendigkeit abhanden gekommen ist: „Erklingt die Gegenwart ebenso unstillbar in ihnen, wie sie es in mir tut?“, lässt der Film ihn gleich zu Beginn in einem inneren Monolog fragen. Fabrizio verlässt seine Verlobte Clelia, wendet sich der Kommunistischen Partei zu (im Film verkörpert durch den Grundschullehrer Cesare) und beginnt eine inzestuöse Beziehung mit seiner nur unwesentlich älteren Tante Gina (Adriana Asti), die gerade bei Fabrizios Familie zu Besuch ist. Die Beziehung zu Gina füllt beinahe den gesamten Zeitraum aus, von dem der Film erzählt (dieser ist auffallend genau datiert: von April bis September 1962), am Ende wird Fabrizio jedoch zu Clelia zurückkehren, sie heiraten und sein Engagement in der Kommunistischen Partei aufkündigen.

 

In der Terminologie von Deleuze/Guattari stellt Fabrizios Flucht im Ergebnis das paradigmatische Exemplar einer negativen Fluchtlinie dar, einer Flucht vor der Flucht, d.h. einer „paranoischen Gegen-Flucht, die alle konformistischen, reaktionären und faschisierenden Besetzungen antreibt“10. Wenn Fabrizio gegen Ende des Films in einem Gespräch mit Cesare sein Engagement in der Kommunistischen Partei reflektiert, tut er das mit den Worten: „Ich will die Gegenwart nicht verändern. Ich akzeptiere sie, aber meine bürgerliche Zukunft ist meine bürgerliche Vergangenheit. Für mich war die Ideologie eine Art von Urlaub. Ich dachte, ich lebe die Revolution. Stattdessen lebte ich die Jahre vor der Revolution.“

 

Retroaktiv gewinnt durch diese Reflexion eine kurze, aus drei elliptisch verbundenen Szenen bestehende Episode zwischen Fabrizio und seinem Freund Agostino gleich zu Beginn des Films ihre spezifische Bedeutung als metatextueller Kommentar. In der ersten Szene sehen wir, wie Fabrizio Agostino vergeblich zum Eintritt in die kommunistische Partei zu überreden versucht. Während Agostino schweigt, spricht Fabrizio von der neuen Bedeutung, welche die eigenen Worte und Handlungen sowie die eigenen Fehler nach dem Eintritt in die Partei annehmen. In der zweiten Szene kommt es zwischen den Freunden zum Konflikt: Fabrizio bezeichnet Agostino als Eskapisten und wirft ihm Feigheit vor, weil dieser nichts anderes tue, als von Zuhause wegzulaufen, nur um danach immer wieder zurückzukommen. Agostino entgegnet, dass selbst Weglaufen eine Leistung sei und Fabrizio nicht das Recht habe, über ihn zu urteilen: „Was glaubst du, was du vorhast? Eine Revolution?“ In der dritten Szene schließlich führt Agostino seinem Freund Kunststücke auf dem Fahrrad vor. Dabei stürzt er dreimal und kommentiert dies mit den Worten, das sei für seinen Vater, für seine Mutter, für ihn selbst. Am Ende der Szene drängt er Fabrizio, Cesare zu besuchen, anstatt mit ihm ins Kino zu gehen. Zwischen den Freunden ist offenbar ein Riss entstanden. Agostino kommentiert diesen Umstand mit dem Wort „Scheiße“.

 

Der Vorwurf der Feigheit, mit dem Fabrizio Agostinos Fluchtversuche qualifiziert, entspricht exakt der Linie der paranoischen Gegen-Flucht, für die Fabrizio sich mit dem Engagement in der Kommunistischen Partei entschieden hat, während Agostinos Davonlaufen im Modell von Deleuze/Guattari für eine positive, eine schizophrene Fluchtlinie steht, die, ohne selbst schon revolutionär zu sein, immerhin das Potenzial der Revolution enthält:

„Denn was ist der Schizo wenn nicht zuerst jener, der ‚alles das‘ nicht mehr ertragen kann, das Geld, die Börse, die Todesmächte […] – Werte, Moralen, Vaterländer, Religionen und private Gewissheiten! Zwischen dem Schizo und dem Revolutionär besteht nur die ganze Differenz desjenigen, der flieht, zu dem, der vermag, das fliehen zu lassen, was er flieht, der ein dreckiges Rohr zum Platzen bringt, einen Wolkenbruch entstehen lässt, einen Strom befreit, eine Spaltung erschließt.“11

 

Auf der Ebene der Erzählung stehen im Film demnach zwei Fluchtlinien einander gegenüber: die negative Fabrizios (und, so muss man ergänzen, auch Ginas), deren Verlauf ausführlich geschildert wird, und die positive Agostinos, die kurz nach der beschriebenen Episode durch Agostinos Tod abrupt beendet wird (Agostino ertrinkt beim Baden im Fluss, wobei unklar bleibt, ob es Selbstmord oder ein Unfall war). Zu den beiden Fluchtlinien, der paranoischen und der schizophrenen, gesellt sich eine dritte, eine, die vielleicht revolutionäres Potenzial besitzt, und die vom Film bloß angedeutet wird. Sie erschließt sich über die Frage, welche Revolution das denn hätte sein sollen, die 1962, im diegetischen Zeitraum des Films, bevorsteht? Zwei Daten werden genannt: die Verhaftung des französischen Generals Raoul Salan, einem der Anführer der französischen Untergrundarmee OAS, am 20. April 1962 in Algier, sowie die Ereignisse des Juni/Juli 1960, die gemeinsam von autonomer Arbeiterbewegung, Studierenden und Aktivist_Innen der Resistenza durchgeführten landesweiten Demonstrationen gegen einen Kongress der neofaschistischen Italienischen Sozialbewegung MSI in Genua, bei denen es zum Teil zu gewaltsamen Zusammenstößen mit den Faschisten und der Polizei kam. Markiert die Verhaftung Salans stellvertretend das Ende des Unabhängigkeitskriegs in Algerien, repräsentieren die Ereignisse des Juni/Juli 1960 in Italien die Bildung einer militanten Arbeiterbewegung, die in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Arbeiterautonomie und der Theorie des Operaismus steht. Arbeiterautonomie und Operaismus stellten den Alleinvertretungsanspruch der Arbeiterparteien und Gewerkschaften ebenso in Frage wie das von diesen propagierte Arbeitsethos. Ihre radikale „Kritik der Arbeit“ setzte an der beständigen Disziplinierung und Zurichtung der im Arbeitsprozess stehenden Personen an, im Mittelpunkt der Überlegungen standen die Subjektivierungsprozesse der Arbeiter und nicht mehr das historische Gesetz der Entwicklung der Produktivkräfte.

 

Rückblickend könnte man sagen, dass die Revolution, auf die der Film anspielt, tatsächlich eine Revolution ist, die in weiten Teilen noch bevorsteht, jene „letztlich unterlegene Revolution“ der 1960er und 1970er Jahre im Westen nämlich, die Paolo Virno als historisch erste Revolution bezeichnet hat, die sich nicht gegen Armut und Rückständigkeit richtete, sondern „besonders gegen die kapitalistische Produktionsweise, also gegen die Lohnarbeit“ 12. Von dieser Revolution ist im Film, man möchte fast sagen: selbstverständlich, nichts zu vernehmen, und zwar nicht allein deshalb, weil im Produktionsjahr 1964 die Rede von der Revolution noch nicht allgegenwärtig war, sondern weil der Film sich auf eine andere Revolution bezieht, eine stilistische diesmal, die die Sprache des Films betrifft. Pier Paolo Pasolini hat diese Revolution als Entdeckung der Möglichkeit einer freien indirekten Rede oder Subjektivierung beschrieben, die es dem Film erlaube, „eine Tradition der ‚technischen Sprache der Poesie‘ zu schaffen“13. An Filmen von Antonioni, Bertolucci, Godard und nicht zuletzt an seinen eigenen beobachtet Pasolini die Entwicklung einer neuen Poetik, in der der Regisseur die Sicht der Figuren auf die Welt nicht mehr seiner eigenen Weltsicht unterwirft, sondern gerade umgekehrt der Regisseur die Welt aus der Sicht seiner Figuren erlebt.

 

Mit einigem Gewinn lässt sich Pasolinis freie indirekte Subjektivierung als zentrale Stilfigur des Entfremdungskinos identifizieren, als dominierende Form der von Gregory angesprochenen, vielfachen und häufig raffinierten Brechungen. Die freie indirekte Subjektivierung führt (und hier beziehe ich mich auf eine Überlegung von Stephan Geene) zu einer Besonderung von (Alltags-)Leben, die „quer zur narrativen Struktur eine unpsychologische, unpersönliche, faktische, äußerliche Seite“ entwickelt, die in den Filmen „großen Raum beansprucht“14: Auf diese Weise erscheint das Leben der Figuren weniger als gelebt, sondern wie von außen betrachtet. Die Aufwertung beliebiger Leben manifestiert sich entweder (wie bei Antonioni) über die „beklemmende Unbeweglichkeit der Kameraeinstellung“15, an deren „filmwidriger Statik“ schon Adorno die Kraft hervorgehoben hat, „wie mit hohlen Augen die leere Zeit auszudrücken“16, oder (wie bei Godard) über die grenzenlose Vitalität von Figuren, „die sich wie besessen an eine Einzelzeit oder eine Geste klammern“17 und von einer beweglichen Kamera im Bild festgehalten werden.

 

Darüber hinaus enthält die Besonderung des Lebens ein politisches Moment „einerseits in der Linie des Neorealismus als Dokumentation der tatsächlichen gesellschaftlichen und menschlichen Verhältnisse, andererseits als Wiederentdeckung des (Alltags-)Lebens, verstanden als Kritik an Spektakel, Verdinglichung, Kommodifizierung, Überhöhung des Alltäglichen, wie sie der kommerzielle Film produziert“18. Und schließlich realisiert die Aufwertung beliebiger Leben, die Pasolini zufolge „aus Opposition gegen die Spielregeln des Films geboren“ wurde, das „Bedürfnis nach grenzenloser, provozierender Freiheit, [die] bewusste Abkehr vom Normalen oder [einen] köstlichen Sinn für Anarchie“19. Freilich wird diese Fluchtlinie des Entfremdungskinos bereits zeitgenössisch von einem doppelten Dilemma bedroht: Einerseits wurde die Neuerung sofort als gültiger Allgemeinbesitz der Filmleute in aller Welt anerkannt (und hier zeigt sich für Pasolini, dass „die entstehende Tradition der ‚poetischen Sprache im Film‘ generell ein kräftiges Neuerwachen des Formalismus als typische Schöpfung des Neokapitalismus und der jüngsten kulturellen Entwicklung“20 bezeugt). Andererseits ist das Bedürfnis nach grenzenloser, provozierender Freiheit stets von der Gefahr bedroht, die Opposition gegen die Spielregeln des Films zu weit zu treiben. Zitat Pasolini:

„Wer die Grenze überschritten hat, auf der das Gefecht ausgetragen wird, hat nichts mehr zu riskieren. […] Wo alles Übertretung ist, ist der Feind verschwunden und kämpft anderswo.“21

 

Bibliographie

Theodor W. Adorno: „Filmtransparente“. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 353-361.

Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main 1988.

Stephan Geene: „1967, Zeit und x-beliebige Filme“. In: Film Avantgarde Biopolitik. Hg. v. Sabeth Buchmann/Helmut Draxler/Stephan Geene. Wien 2009, S. 236-263.

Stephan Gregory: „Die Wörter und die Dinger. Requiem für das Entfremdungskino“. In: Film Avantgarde Biopolitik. Hg. v. Sabeth Buchmann/Helmut Draxler/Stephan Geene. Wien 2009, S. 264-279.

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1986.

Pier Paolo Pasolini: „Die Sprache des Films“. In: Semiotik des Films. Hg. v. Friedrich Knilli. München 1971, S. 38-55.

Jörg Schweinitz: „Abwehr und Vereinnahmung: bildungsbürgerlicher Reformeifer“. In: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909 – 1914. Hg. v. Jörg Schweinitz. Leipzig 1992, S. 55-64.

Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Wien 2005.

 

Empfohlene Zitierweise

Vrääth Öhner: „Leere Momente. Eskapismen im Entfremdungskino“ In: escape. Strategien des Entkommens. Onlinepublikation. Hg. von Nicole Kandioler/Ulrich Meurer/Vrääth Öhner/Andrea Seier. http://escape.univie.ac.at/leere-momente/

Endnoten

  1. Jörg Schweinitz: „Abwehr und Vereinnahmung: bildungsbürgerlicher Reformeifer“. In: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909 – 1914. Hg. v. Jörg Schweinitz. Leipzig 1992, S. 55-64, hier S. 62.
  2. Schweinitz 1992, S. 57.
  3. Schweinitz 1992, S. 57.
  4. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1986, S. 164.
  5. Horkheimer/Adorno 1986, S. 167.
  6. Stephan Gregory: „Die Wörter und die Dinger. Requiem für das Entfremdungskino“. In: Film Avantgarde Biopolitik. Hg. v. Sabeth Buchmann/Helmut Draxler/Stephan Geene. Wien 2009, S. 264-279, hier S. 265.
  7. Gregory 2009, S. 265.
  8. Gregory 2009, S. 265.
  9. Gregory 2009, S. 266.
  10. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main 51988, S. 441.
  11. Deleuze/ Guattari 1988, S. 441.
  12. Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Wien 2005, S. 159.
  13. Pier Paolo Pasolini: „Die Sprache des Films“. In: Semiotik des Films. Hg. v. Friedrich Knilli. München 1971, S. 38-55, hier S. 48.
  14. Stephan Geene: „1967, Zeit und x-beliebige Filme“. In: Film Avantgarde Biopolitik. Hg. v. Sabeth Buchmann/Helmut Draxler/Stephan Geene. Wien 2009, S. 236-263, hier S. 238.
  15. Pasolini 1971, S. 49.
  16. Theodor W. Adorno: „Filmtransparente“. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 353-361, hier S. 355.
  17. Pasolini 1971, S. 51.
  18. Geene 2009, S. 238.
  19. Pasolini 1971, S. 54.
  20. Pasolini 1971, S. 54.
  21. Pier Paolo Pasolini: „Das unpopuläre Kino“. In: Ketzererfahrungen. Schriften zu Sprache, Literatur und Film. Frankfurt am Main 1986, S. 253-263, hier S. 262.